Die Seele möchte das Leben schmecken

9.12.2023

Der erste Atemzug

Auch wenn wir uns nicht bewusst erinnern können. Aber wir alle haben es erlebt, ein Embryo zu sein und ohne unser Dazutun über die Nabelschnur mit Sauerstoff und Nahrung versorgt zu werden. Wir lagen geborgen und wohl temperiert in der Bauchhöhle unserer Mutter, spürten ihren Herzschlag, der zusammen mit unserem eigenen Herzschlag einen beruhigenden Rhythmus ergab. Da, wo wir herkamen, waren wir auf diese körperliche Versorgung nicht angewiesen. Diese Zeit im Mutterleib war der Transit in unser körperliches Dasein in dieser Welt und die erste Erfahrung, in einer abhängigen Beziehung zu sein. Nicht immer war die Nahrung, die wir durch die Nabelschnur bezogen, nur gut und so mussten einige von uns schon in diesem frühen Stadium unseres Erdenlebens körperlich erleben, dass die Bezogenheit auf ein anderes Wesen uns auch vergiften kann und Unruhe und Unwohlsein in uns auslöst. Auch die emotionalen Zustände unserer Mutter waren für uns spürbar, ebenso die Geräusche aus der Umgebung.  Vielleicht haben wir sie, wenn sie unangenehm oder besonders laut waren, erlebt, wie einen Schreck, mit dem man aus einem schönen Traum geweckt wird. Viele von uns haben dieses Stadium jedoch überwiegend als sinnliches Wohlgefühl erlebt. So wuchsen wir heran und füllten den Raum, der uns ganz natürlich gegeben war, irgendwann so sehr, dass er zu eng wurde. Dann war es Zeit für die Geburt und den Übergang aus der Erfahrung, Teil eines größeren Körpers zu sein hin zu einer eigenständigen Körperlichkeit. Von nun an übernahm unser eigener Körper die Regie und es begann mit dem ersten Atemzug, der unsere unmittelbare Beziehung zur Welt einläutete. Von nun an waren wir der Welt ausgesetzt und darauf angewiesen, dass uns Nahrung gegeben wurde, sie floss uns nicht mehr selbstverständlich zu. Wir brauchten jemanden, der uns Wärme und Geborgenheit gab, der uns kleidete und schützte vor Kälte, Sonne und Wind, denn es sollte eine Weile dauern, bis wir selber dazu in der Lage sein würden. Unser Nervensystem war noch so fein und zart, dass es alle Vibrationen unserer Umgebung wie ein hochsensibles Seiteninstrument in Empfindungsmelodien übersetzte. Erst langsam bildete sich eine Art Schutzhaut um diese feinen Saiten und waren die Schwingungen, die uns umgaben, besonders unangenehm, wurde unser System dazu angeregt, für unser Gleichgewicht zu sorgen und bei starken Erschütterungen mag diese Haut schon früh krustige, dichte Strukturen gebildet haben, die uns Barrieren im Spüren der Weltenumgebung wurden. In unserem frühkindlichen Schlaf waren wir noch verbunden mit der Erfahrung im Mutterleib und mit den Seelenbildern, die vor diesem Einzug in einen menschlichen Körper Existenz waren, die das reine Sein ist, ohne, dass es ein Bewusstsein über diesen Zustand braucht. Unser Nervensystem und unser Gehirn bildeten immer komplexere Strukturen, angeregt durch die sinnlichen Erfahrungen, die wir machen durften. Berührungen, Geräusche, Lichtspiele, Gerüche, Umgebungstemperaturen…. In dem Wechsel zwischen viel Schlaf und Wachsein konnten wir uns langsam an das irdische Dasein gewöhnen und der Drang, sich auf dieses Leben einzulassen, sich in dieses Dasein aktiv hineinzubewegen nahm zu. Die Entdeckerfreude wuchs, es war ein großes Beobachten und Lernen das nun begann und die beglückende Erfahrung, dass wir dazugehören, dass unser Köper und unser geistiges, instinktives und sinnliches System in der Lage sind, uns am menschlichen Spiel teilhaben zu lassen. Manche von uns konnten dabei nicht schnell genug sein und schickten ihren Willen der körperlichen Reifung voraus, so groß war ihr Drang, das Leben selber gestalten zu können. Andere ließen sich viel Zeit und folgten gemächlich der Entwicklung ihres Körpers. Hier zeigten sich bereits die erste Unterschiede zwischen den Temperamenten.

Die Seele möchte das Leben schmecken

Das Leben fing an, immer spannender zu werden, denn in unserer zunehmend selbst gestalteten Bewegung in die Beziehungen zu Menschen und Umgebungen gab es immer neue Varianten der Erfahrung und fast alles, was wir taten, geschah zum ersten Mal. Unser Verbundenheitsfeld wurde größer und komplexer und wuchs über die vertraute Familie und engere Bezugspersonen immer weiter hinaus. Die Gestalt unserer Umgebung prägte unsere Bilder und Vorstellungen von der Welt. Unsere natürlich Anpassungsfähigkeit ermöglichte es, dass wir uns in unserer Umgebung orientieren und zurechtfinden konnten. Wir entdeckten uns mehr und mehr als Individuum vor allem durch die Unterschiede, die wir zwischen uns und anderen erfuhren. Viele Fragen kamen auf, wir wollten unsere Umgebung nicht nur entdecken, sondern auch Verstehen. Unsere Herkunft aus einem Zustand der Einheit und Verbundenheit wandelte sich mehr und mehr in die Erfahrung von ich und du und wir begannen, Grenzen zu entdecken und zu gestalten. Spielerisch konnten wir das Leben üben, in verschiedene Rollen schlüpfen, Verhaltensweisen und ihre Wirkungen ausprobieren, auch die, die unsere Handlungen auf uns selber hatten, und wir konnten unsere Gefährtinnen und Gefährten dabei erleben, wie sie dasselbe taten. Je nachdem, wie uns die Welt begegnete, begannen wir Rollenmuster und Strategien zu entwickeln, die uns durch die Erschließung unserer Beziehungslandschaft mit anderen Menschen einen möglichst sicheren Platz einzurichten vermochten. Wir entdeckten, dass die Welt voller Geschichten war. Wir hörten und erfuhren unsere eigene Familiengeschichte, wir lauschten Märchen, Erzählungen von anderen und den wortlosen Geschichten, die unsere Umgebung uns erzählte. Die Geschichten der Musik, der Kunst, der Landschaft, der Pflanzen und Tiere, der Städte. Wir begannen, diese Geschichten mit unseren eigenen Erfahrungen zu verweben und auch hier entdeckten wir die Wirkung unserer Worte. 

Mehr und mehr zeigte sich unsere Persönlichkeit. Hatten wir zu Beginn vieles nachgeahmt, wurden wir nun immer schöpferischer im Entfalten von Varianten unseres Daseins. Wir spürten mehr als wir es wussten, dass unser So-Sein geprägt ist von Erfahrungen, Geschichten und von dem, was wir mitgebracht haben, um in dieser Welt unseren Platz einzunehmen. Als wir größer geworden waren, hatte darum auch zunehmend die Frage eine Rolle zu spielen begonnen, was unsere Aufgabe ist, welches der Platz ist, an dem wir ganz mit unseren Begabungen und Stärken einfinden könnten (nicht selten haben wir ja Plätze eingenommen, die andere für uns vorgesehen haben und die uns nicht passen) und wie dies geschehen sollte. Das, was wir unsere Lebensregie nennen können, hat uns mit einem Sinn versorgt, der uns wie mit einer Wünschelrute unsere Spur finden lässt, der uns auch spüren lässt, wenn wir von unserer Spur abgekommen sind. Wenn wir diese ignorieren, kann es sein, dass wir krank werden, körperlich oder psychisch. Auch kann ein Gefühl von Abgeschnittensein, Unverbundenheit, Isolation und Schwäche überhand nehmen, weil der Zugang zu unserer spirituellen Nabelschnur verstopft ist. Auch wenn wir in dieses Erdenleben gelangt sind, können wir uns jederzeit verbinden mit einer unermesslichen Quelle von Inspiration, Kraft und Liebe. Der Erdenzustand ist kein Entweder/Oder sondern das, woraus unser Lebensfunke entsprungen ist, ist immer in uns, um uns, überall präsent. Es gibt viele Möglichkeiten, diesen Zugang freizulegen und uns an den lebendig pulsierenden Strom anzuschließen. Wenn wir bereit sind, wird uns eine Möglichkeit begegnen. Dieser schöpferische, göttliche Strom wird uns auch wieder ganz in sich aufnehmen, wenn wir den nächsten großen Übergang vollzogen haben. 

Das große Loslassen

Dieser Übergang, den wir – ob wir wollen oder nicht – alle er“leben“ werden, wenn wir uns darauf vorbereiten, diese Erde wieder zu verlassen, ist ein aus der Perspektive des ausschließlich erdverbundenen Menschen mit Angst und Unvorstellbarem verbunden. Verständlich, wenn wir bedenken, wieviel Mühe wir darauf verwandt haben, unser Dasein in diesem Leben aufzubauen. Wie soll das alles dahin sein? Vom Da-Sein zum Weg-Sein ist ein großer Schritt. Der letzte Atemzug ist das große Loslassen. Wie viel Vertrauen und Hingabe braucht es, um sich darauf einzulassen? Springen wir ins Nichts? Wenn unsere Identifikation ganz beim physischen Leben liegt und/oder wenn wir uns vor allem mit Kontrolle als Anpassungsstrategie durch das Leben bewegt haben oder unser Vertrauen in unser Aufgehobensein in den Welten verkümmert ist, dann ist es fast undenkbar, sich offenherzig darauf einzulassen. Für Kulturen, die die Welten jenseits der physischen Welt als immer präsent erleben, ja sogar durch Rituale und Gaben Brücken zu ihnen schlagen können, hat dieser große Übergang sicher weniger Furchterregendes. Wir alle haben die Möglichkeit unsere eigene Verbindung zu diesen Welten zu entwickeln und zu pflegen. Meines Erachtens ist die Pflege unseres spirituellen Lebens für unsere Gesundheit und Lebensfreude unerlässlich. Der letzte Atemzug ist auch ein Neubeginn in einer anderen, unermesslich beglückenden schöpferischen Existenz und auf den letzten Schritten dorthin kann noch viel Heilung geschehen. Wir sollten nicht vergessen, dass wir unser Leben lang sowohl das Gebären als auch das Sterben üben. Wir gehen schwanger mit Ideen, wir bringen Projekte hervor oder wir verabschieden uns von Menschen, Orten, Situationen, sterben 1000 Tode, um uns danach erneuert wieder vorzufinden. 

„Es wird vielleicht noch die Todesstunde 

Uns neuen Räumen jung entgegensenden.

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

(aus „Stufen“ von Hermann Hesse)

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